Mittwoch, 7. März 2012

Anständige Mädchen? Ansichtssache

Dieses Buch fiel mir in der Bahnhofsbuchhandlung irgendwann im vorletzten Winter in die Hände. Ich merkte mir den Titel: Handbuch für anständige Mädchen. Aber bevor es zu meinem Eigentum werden konnte, war es vom Präsentationstisch verschwunden. Ich hatte jedoch Glück: die Freundin meines Bruders, meine vielleicht-quasi-Schwägerin-in-spe (das darf er jetzt nicht lesen, sonst köpft er mich) erzählte von sich aus, dass sie es habe! Sie lieh es mir :o). Und das war gut so. Der Roman von Elaine di Rollo ist einer der wenigen, die ich im letzten Jahr wirklich genossen habe!

Der Rahmen:
Ein Haus voller Kuriositäten aus Zeiten, als Fotografie noch eine moderne Errungenschaft war; zwei Schwestern, die von ihrem Vater dazu benutzt werden, ihm Kuratorinnen zu sein, aber genau deswegen zu gebildeten und starken Frauen heranwachsen; ein perfides, patriarchalisches Weltbild, das ihnen die Rolle der Frau jener Zeit zuschreiben will, in das sie doch nie hinein erzogen wurden – und die Weigerung beider, jeder auf ihre eigene Art, sich dem zu beugen.

Zur Geschichte:
So muss Lilian, die hübscher der beiden Zwillinge, die gar als Drillinge zur Welt kamen, das Haus verlassen, nachdem sie dem Familienvorstand Schande bereitete. Mit einem schnell geehelichten Missionar wandert sie nach Indien aus. Dort passt sie sich weit besser an die Hitze, die Menschen und die Umstände an, als ihr in England so bekehrungseifriger Gatte. Er verstirbt (zum Glück, gewissermaßen) und lässt sie als freie Witwe zurück.

Alice hingegen bleibt mit dem Vater, ihren Tanten und noch einigen weiteren Hausbewohnern an Ort und Stelle. Auch ihr eröffnen sich unbekannte Möglichkeiten, als ein neuer Gast ihres Vaters - dessen wissenschaftlichen Forschungsdrang zu Diensten - im Haus einzieht. Aber auch Gefahren lauern, denn das Weltbild dieser Zeit hält nichts von selbstdenkenden Frauen.

Wie ist es gemacht?
Beide Erzählstränge strotzen vor geschichtlichem Hintergrund, lebendig eingebettet in das jeweilige Umfeld von Lilian und Alice. Ein Großteil der moralischen Äußerungen der meisten Figuren wären für mich kaum zu ertragen, wären da nicht die beiden Hauptfiguren, die es gedanklich zu unterstützen gilt.

Andererseits ist es überaus amüsant, den Gesprächen der Tanten im Hause Talbot zu folgen - alt und gebrechlich, wie sie mittlerweile alle sind, aber voller Herzensgüte und Liebe für Alice (und Lilian). Am Ende, kurz vor dem großen Showdown, geben sie ihr Bestes, die anstehende Katastrophe zu verhindern. Und in Anbetracht der Tatsache, dass Frauen zu damaligen Zeiten kaum etwas zu melden hatten, stellt dies eine ebenso amüsante wie beachtenswerte Aktion dar.

Fazit:
Der Roman von Elaine di Rollo lebt natürlich von dem Widerspruch dieser zwei selbständig und klug denkenden Frauen innerhalb des frauenfeindlichen, selbstherrlichen Weltbildes der Männer in der Zeit um 1860, wie es durch Mr. Talbot und besonders Dr. Cattermole in England, aber auch durch die Mitglieder der Britischen Kolonie in Indien vertreten wird. Neben vielen charmant-kurios anmutenden Situationen im Umfeld der wissenschaftlichen Errungenschaften im Hause Talbot kommt es jedoch auch zu blutrünstigen Ereignissen in Indien, die im ersten Moment der Entwicklung unerwartet heftig auf den Leser einstürzen, obwohl bis zu diesem Moment die tragischen Komponenten der Ansichten und Geschehnisse insgesamt eher beiläufig innerhalb der Geschichte ihren Platz haben.

Mein Eindruck:
Der Erstling di Rollo’s besticht durch die beiden Hauptfiguren, für die ich kaum weniger als Bewunderung empfand, durch liebenswerten Tanten und anschauliche Details. Der Kontrast der gesellschaftlichen Stimmung bietet den Nährboden für diese Geschichte. Es ist erschreckend, sich die Ignoranz vor Augen zu führen, mit der viele Argumentationen hervorgebracht und vertreten werden. Wer mag, kann dies als unterhaltsame Sonderbarkeiten der Unwissenheit abtun, wer weniger mag, findet hier viel Stoff, sich hinter die Ohren zu schreiben, dass es oft angebracht ist, genauer hinzusehen. Zum Glück hat die Brutalität der Folgen jener Ignoranz in der Geschichte nur einen mäßigen Raum eingenommen, ansonsten hätte ich das Buch trotz der sonstigen Begeisterung nicht zu Ende lesen können.

Wer dieses Buch mögen könnte:
Liebhaber starker Frauencharaktere, historischer Stoffe und enger Beziehungsbande kommen hier auf ihre Kosten.

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