1Q84 begegnete mir an einem dunklen Winterabend in der Bahnhofsbuchhandlung. An diesem Abend mochte ich es mir nicht verkneifen, diesen Fund liegen zu lassen und außerdem ging es darin um einen Schriftsteller. Zumindest, soweit ich das anfangs beurteilen konnte ;-)
Tengo ist Mathematiklehrer an einer Yobiko, einem privaten
Institut zur Vorbereitung von Studienanwärtern auf die Aufnahmeprüfungen. Davon abgesehen gilt seine
Leidenschaft der Schriftstellerei. Bisher hatte er damit keinen Erfolg, aber er
lektoriert andere Werke und bei seinem Herausgeber hat seine Meinung Gewicht.
Schließlich wird er Fukaeris Die Puppe aus Luft überarbeiten, damit diese
hoffentlich einen Debütpreis gewinnt – was auch tatsächlich passiert.
Aomame ist Fitnesstrainerin und mit dem menschlichen Körper
zutiefst vertraut. Wenn es notwendig ist, betätigt sich als Auftragskillerin im
Namen der Menschlichkeit.
Beide leben am Rande der Gesellschaft, sind im Grunde
Einzelgänger und ihre Schicksale letztlich eng miteinander verwoben.
Die Geschichte um Die Puppe aus Luft im Jahr 1Q84 (einer
Paralellerscheinung zu 1984) wird abwechselnd mit dem Blick auf Tengo und
Aomame erzählt. Zwei von drei Büchern sind in diesem Band zusammengefügt. Dabei
ist das erste Buch stärker von Handlung getragen, während Buch zwei sich
überwiegend mit dem Innenleben der beiden Protagonisten in ihrer jeweiligen Situation befasst.
In Buch eins bleibt vor allem die Frage bestehen: Worum
genau geht es hier eigentlich? Auf Seite 400 ist es mir noch nicht klar. Die
Geschichten von Tengo und Aomame scheinen in keinem Zusammenhang zueinander zu
stehen, und beide weisen als Einzelgeschichten ebenfalls keine klar greifbare
Richtung auf. Genausogut könnte man seinem Nachbarn dabei zusehen, wie er sich auf
den täglichen Spaziergang mit seinem Hund vorbereitet und auch tatsächlich das
Haus verlässt, obgleich das Erzählte natürlich weit mehr Kuriosität aufweist.
Interessant finde ich die schriftstellerische
Aspekte, die – durch die Figur bedingt – vor allem in Tengos Anteilen zum
Tragen kommen, und Aussagen wie: „Wenn in einer Geschichte eine Pistole
vorkommt, muß sie auch zum Einsatz kommen“, lassen aufmerken. Auch wenn diese
ein Zitat ist. Merkwürdigerweise fällt es jedoch in einem Aomame-Kapitel. Diese Verwobenheit erzählerischer Elemente über verschiedene Charaktere hinweg irritiert, denn sie zeichnet keine klaren Charakterstrukturen, sondern lässt den Verdacht aufkommen, dass der Autor ein
bestimmtes Kontingent an Inhalt einfach immer wieder aufrollt, um der
Geschichte Volumen zu verleihen.
Einzig Fukaeri, die Autorin von Die Puppe aus Luft
zeichnet sich durch eine konsequente Andersartigkeit aus, und es stellt eine
echte Herausforderung dar, ihre Art des Fragens ohne Fragezeichen zu intonieren. Wie geht das, wenn Fukaeri fragt: „Darf ich die Hand noch
halten“ (S. 203), ohne dabei die Stimme einem Fragesatz gemäß zu modulieren?
Eins kann ich dazu sagen: es ist nicht leicht!
Faszinierend ist jedoch auch Aomames Konzentrationskraft zu
beobachten. Stück für Stück kann man sie begleiten bei der Entdeckung, dass
irgendetwas in ihrer Welt im Jahr 1984 nicht stimmt. Selbst die Feststellung:
“Ich bin nicht verrückt. Die Welt ist verrückt. - Aber denken das nicht alle
Verrückten?“ besticht in seiner analytische Exaktheit, die sie an dieser Stelle
konsequent auch auf ihre eigene Wahrnehmung anwendet.
Mit der Zeit fällt auf, dass Murakami Gedankengänge zu oft wiederholt, ohne dieser Wiederholung Sinn zu verleihen. Er verdeutlicht auch nicht, dass er bzw. die Figuren
sich dieser Wiederholungen als solcher bewusst sind. Mehr als einmal fragte ich
mich, ob der Autor lediglich vergessen hatte, dass er eine Darstellung bereits in genau der gleichen Weise verwendet hatte, wie z.B. beide Male, als
Tengo seinem Vater begegnet, und er beide Male feststellt, dass dieser um eine
Kleidergröße kleinergeworden wirke. Bei der zweite Erwähnung hätte ein „und
wieder“ oder ähnliches die Feststellung eines erneuten Schrumpfens oder z.B.
ein „wieder fiel ihm auf“ die bewusst wiedererlebte Beobachtung verdeutlichen
können. Solche Doppelungen kamen sogar auf einer einzigen Seite vor, ohne dabei ein Verstärkung des bisher
beschriebenen zu bewirken, wie es damit durchaus geschehen kann. Vor allem das
zweite Buch ist an vielen Stellen schlichtweg in die Länge gezogen, die
gedanklichen Reflexionen erscheinen oft überflüssig und keineswegs mit einem
natürlichen Denkprozess vergleichbar (jedenfalls nicht mit meinem). Stattdessen wirken sie wie
wohlausgefeilte Reden und Rechtfertigungen. Vermutlich hätte dieser Band ohne
weiteres um mehr als 100 Seiten kürzer sein können. Der Inhalt wäre der gleiche
geblieben.
Da die Geschichte selbst aus insgesamt drei Bänden besteht,
fehlt diesem Buch ein konkreter Schluß. Das Ende des letzten Kapitels würde
ebenso wie alle anderen dazu verleiten, die Seite umzublättern – wenn denn noch
Seiten da wären.
Hierin liegt aber auch die Stärke des Romans. Trotz der
Längen, obwohl das erste Buch kaum Anhaltspunkte liefert, worauf die Gesamtkomposition
überhaupt hinauslaufen soll, trotz der immergleichen Anleihen an Nebenthemen
(Musik, Literatur, die Akebono…) für alle beteiligten Figuren ohne gemeinsamen
Erfahrungshintergrund, der einen relativen Einheitsbrei aller Figuren
untereinander entstehen lässt, fällt es erstaunlich leicht, immer
weiterzulesen. Vielleicht liegt es an dem derart ausgelösten Bedürfnis, doch
noch Ordnung in das Chaos zu bringen. Vielleicht gilt es, weiterzulesen, um
Seite für Seite hoffentlich mehr Puzzleteile des Gesamtbildes herausarbeiten zu
können. Dabei geschieht das Umblättern ganz automatisch. Trotz aller
Kritikpunkte schafft Murakami es, eine Welt zu weben, in die sogar der Leser
hineingezogen wird.
Wenn man also Zeit hat, die nicht verloren scheint durch
zuviel Doppeltes – dann kann man Murakamis Geschichte genießen als
fantasievolles Konstrukt aus Welt und Paralellwelt, aus fast alltäglichem und
fremdartigem, aus Menschlichkeit und Mythos. Allerdings sollte man dann wohl
auch in Betracht ziehen, Band drei gleich mitzukaufen und noch ein paar Tage
Lesezeit dranzuhängen.