Samstag, 10. November 2012

Mit Supra-Lens wäre das nicht passiert


„Action, Leute, ich will Action sehen. Ja, gut, genau! So muss das sein, so wird da ein Schuh draus!“ Klaus heizte seinem Team ein. „Aber Lisette, Mäuschen, dein Lächeln ist ja bezaubernd, nur leg bitte etwas mehr Selbstvertrauen hinein! Sei keck, los, mach Hartwig an, dafür hast Du doch diese Sahneschnitte!“

Statt zu flirten, prustete Lisette jedoch plötzlich los.

„Was denn, was denn jetzt? Lisette! Was soll das?“

Während Klaus noch ratlos um sich sah, drehte Hartwig sein Gesicht in Richtung Kamera, bis er Klaus im Blick hatte und zeigte ihm frontal seine hochgezogene linke Augenbraue.

Arne, der Kameramann, war begeistert: Hartwig in Bestform. Reduzierte, isolierte Mimik mit maximaler Wirkung. Ein echter Könner.

Klaus sah das allerdings anders: „Das ist jetzt nicht Dein Ernst! Du verschwendest meine Zeit. Verflucht, Du bist ein Vollprofi, mach gefälligst keinen Scheiß, klar? Spiel deine Rolle und spar Dir den Spaßvogel!“

„Aber natürlich“, stimmte ihm Hartwig, der Vollprofi, seelenruhig zu und drehte langsam seinen Kopf zurück in Position.

Für eine Sekunde schien die Situation geklärt und Klaus befriedigt, doch dann kicherte Lisette erneut.

„LISETTE!“

„‘Tschuldigung“, gluckste sie und schloss die Augen, um zur Ruhe zu kommen. Sie atmete tief ein, blickte anscheinend gesammelt zu Hartwig – und fing sofort wieder an.

Klaus verdrehte die Augen, aber das half ihm auch nichts: schmunzelnd wandte Hartwig sich zum zweiten Mal in Richtung Kamera und zeigte sein gekonntes Augenbrauenhochziehen, während Lisette sich mit jeder weiteren seiner Zuckungen mehr und mehr in einen Lachanfall hineinsteigerte.

Es dauerte eine geschlagene viertel Stunde, bis sie sich endlich beruhigt hatte und der Dreh weitergehen konnte. Aber jetzt brachte sie es: das Mädchen flirtete auf Teufel komm raus mit Hartwig.

Nur wenig später rief Klaus erleichtert: „Cut!“, und Hartwig verließ zufrieden seinen Platz, während ein anderer diese Position einnahm. Als er an Arne vorbeikam, raunte Hartwig selbstzufrieden: „Ich habe ihm nur bei seinem Job geholfen.“

„Und das hast Du verdammt gut gemacht!“

Die nächste Szene begann mit einem closeup auf Lisettes Augen, in die sie jetzt einen sexy Silberblick legte, und für Arne wurde sein Job plötzlich verteufelt unbequem, als ihr Flirt mit der Kamera viel mehr ihn persönlich zu meinen schien, es in seiner Hose höllisch eng wurde und er sich kaum an die nächste Einstellung erinnern konnte. Er musste alle noch brauchbaren Gehirnzellen zusammenkratzen, um von ihrem Gesicht auf den Picknickkorb zu schwenken, in den ihre zarten Hände eintauchten und Stück für Stück eine Decke, Teller und Gläser, Besteck und Flaschenöffner, Wein, Weintrauben und Käse hervorholten. Doch schon als sie das rot-weiß karierte Tuch sorgsam ausgebreitet hatte, begann Arnes Körper, sich zu beruhigen.

Während Lisette alles weitere flink an den für die Kamera unsichtbar markierten Plätzen positionierte, war es Zeit für ihren Text: „Ich habe ein Gedicht über Blind Dates geschrieben. Warte, ich lese es Dir vor.“

Gleich darauf schwamm ihr Blick haltlos durch das Bild, während sie ein Blatt Papier hervorkramte, es mit tastenden Bewegungen auseinanderfaltete, um es anschließend mit zusammengekniffenen Augen zu taxieren und ihr Gesicht verriet, wie wenig sie laut Drehbuch erkennen konnte.

Arne, nun wieder ganz Herr seiner selbst, konzentrierte sich auf die Nahaufnahme ihrer Hände, folgte der linken, die ein pinkfarbenes Etui aus dem Korb fischte, es öffnete, eine Brille herausnahm, das Etui fallen ließ, die Brille auseinanderklappte und auf ihre Nase setzte, womit die Kamera wieder die Augen erfasste, die sich scheinbar am Papier auf ihrem Schoß festgefressen hatten. Als Lisette anschließend zufrieden lächelnd zu dem vor sich sitzenden Mann sah, erstarrten ihre gerade noch anmutigen Bewegungen.

Die Kamera folgte ihrem fassungslosen Blick und im Angesicht einer glubschäugigen, schnapsnasigen Visage mit ekelhaft gelben Stummelzähnen würde später eine Stimme aus dem Off feststellen: „Mit Supra-Lens wäre ihr das nicht passiert.“