Oh, ja! Ich
erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen: Wie wir dalagen,
übereinandergestapelt, mit aufgerissenen Augen und Mündern. Fünf Knirpse, denen
sonst nichts so leicht die Sprache verschlug ...
Es war ein ganz
normaler Sommertag gewesen: sonnig, warm und von keiner Wolke getrübt.
Wir waren also
fünf: Mirco, Marco, Stefan, Jenny und natürlich ich. Die Zwillinge Mirco und
Marco sahen gar nicht aus wie Zwillinge. Meine Mutter hatte mir erklärt, es
gäbe solche, die vollkommen gleich aussähen und andere, die wie ganz normale
Geschwister waren, nur dass sie zur gleichen Zeit empfangen worden waren (ich weiß noch, wie ich bei diesem Wort
kichern musste), die also auch zur gleichen Zeit in der Mutter heranwuchsen und
dann natürlich am gleichen Tag geboren wurden. Naja, solche Zwillinge waren
also Mirco und Marco. Sie sahen sich ähnlich, aber nicht zum Verwechseln.
Zu der Zeit war
auch Jenny einer von uns. Wir machten noch keinen Unterschied zwischen Jungen
und Mädchen; das kam erst später.
Am Vormittag
hatten wir an unserer Hütte im Wald gearbeitet. Der Pfiff von Stefans Großvater
hatte uns, wie immer, rechtzeitig zum Mittagessen nach Hause geholt, aber jeder
von uns erhielt das Versprechen, anschließend dürften wir wieder zusammen
losziehen. Was wir dann auch taten. Stefan hatte von seiner Großmutter für
jeden von uns einen dicken, roten Apfel dabei.
„Heute Nachmittag
wird der alte Fritz beerdigt“, begrüßte er uns, als wir wieder aufeinander
trafen. Marco und Mirco klatschten in die Hände; Jenny kombinierte scharf, dass
es später im Gemeindesaal Kuchen gäbe und ich forderte meine Freunde auf, mir
zu folgen: auf zum Friedhof! Denn eines unserer Lieblingsspiele war es, uns in
die Nähe der Friedhofsgärtner zu schleichen, die Männern beim Buddeln zu
bespitzeln und dabei möglichst selbst nicht gesehen zu werden. Und wenn die
Gemeinde kam, um ihre Mitglieder zu beerdigen, stahlen wir uns vom Platz sobald
der Trauerzug vorüber war. Aber bis dahin gab es keinen besseren Ort als diesen
– mit seinen alten Buchen und Eichen, den zum Teil halb verwitterten
Grabsteinen und Familiengruften, die zum Verstecken und Fangenspielen nur so
herausforderten.
Die Zwillinge
hatten ihre Äpfel schon aufgegessen. Sie waren gierig gewesen! Auch Jenny hatte
ihren verdrückt. Sie fand es lästig, ihn in der Hand zu halten. Stefans
Exemplar war ihm aus der großen Brusttasche seiner Latzhose gefallen, als er
sich kopfüber in den dicksten Ast der weitverzweigtesten aller Klettereichen
gehängt hatte. Dabei war der Apfel ausgerechnet im Stechginster gelandet. Jenny
wusste von ihrer Mutter, der sie oft im Garten half, dass man gefälligst die
Finger nicht in den Mund steckte, wenn man Stechginster berührt hatte. Wir nahmen an, dass das für den Apfel auch
galt und hatten ihn verloren gegeben.
Nur ich hatte
noch meinen, und war sehr zufrieden damit.
Als die
Trauergäste sich an diesem Tag dann vor dem Friedhofstor aufgestellt hatten, um
in stiller Prozession dem Sarg zu folgen, standen wir hinter der Hecke und
warteten. Zum Mittag mussten Mirco und
Marco allerdings einen Kasper in ihrer Suppe gehabt haben, denn sie hörten gar
nicht mehr auf, rumzublödeln. Ich widmete mich gerade hingebungsvoll meinem
Proviant, als Marco Mirco schubste, dieser Stefan anrempelte, welcher
ungebremst gegen mich fiel und wir beide dann zu Boden gingen. Jenny versuchte noch, eine
lustige Rauferei zwischen uns zu verhindern, als sie plötzlich innehielt und
mit entsetzten Augen aufsah: Mein Apfel rollte schnurgerade auf die sechs
Sargträger zu, die eben den Weg entlang kamen und besonders würdevoll nach vorn
blickten. Der erste hob seinen großen Fuß mit den blankpolierten Schuhen. Als er
ihn wieder aufsetzen wollte, traf er mit seiner glatten Sohle genau die
verhängnisvolle Frucht, rutschte daran ab, begann zu straucheln, stütze sich in
einer halben Drehung und dem verzweifelten Versuch, das Gleichgewicht
zurückzugewinnen, mit der rechten Hand am Sarg ab, fiel über seine eigenen und
vor des nächsten Füße, welcher den Griff vollends losließ, um nicht – den Kopf
voran – über den Vordermann zu stürzen, während der dritte von hinten den Sarg nicht mehr waagerecht
halten konnte und dieser mit der rechten, vorderen Kante auf dem Boden
aufschlug.
Dann herrschte
Totenstille.
Den Leichenschmaus
konnten wir vergessen. Es hagelte Hausarreste. Aber meine Mutter erzählte mir
später, dass das halbe Dorf später darüber lachte, wie wir alle auf den Sarg
gestarrt hatten, voller Panik in der Erwartung, der Deckel würde gleich
aufspringen!
Was wir nicht
wussten: Der alte Fritz hatte seinen Körper zu Forschungszwecken dem
nächstgelegenen Universitätskrankenhaus vermacht.
Im Sarg lagen nur ein Anzug und seine alte Pfeife.