Montag, 21. Mai 2012

Domino

Oh, ja! Ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen: Wie wir dalagen, übereinandergestapelt, mit aufgerissenen Augen und Mündern. Fünf Knirpse, denen sonst nichts so leicht die Sprache verschlug ...

Es war ein ganz normaler Sommertag gewesen: sonnig, warm und von keiner Wolke getrübt.

Wir waren also fünf: Mirco, Marco, Stefan, Jenny und natürlich ich. Die Zwillinge Mirco und Marco sahen gar nicht aus wie Zwillinge. Meine Mutter hatte mir erklärt, es gäbe solche, die vollkommen gleich aussähen und andere, die wie ganz normale Geschwister waren, nur dass sie zur gleichen Zeit empfangen worden waren (ich weiß noch, wie ich bei diesem Wort kichern musste), die also auch zur gleichen Zeit in der Mutter heranwuchsen und dann natürlich am gleichen Tag geboren wurden. Naja, solche Zwillinge waren also Mirco und Marco. Sie sahen sich ähnlich, aber nicht zum Verwechseln.

Zu der Zeit war auch Jenny einer von uns. Wir machten noch keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen; das kam erst später.

Am Vormittag hatten wir an unserer Hütte im Wald gearbeitet. Der Pfiff von Stefans Großvater hatte uns, wie immer, rechtzeitig zum Mittagessen nach Hause geholt, aber jeder von uns erhielt das Versprechen, anschließend dürften wir wieder zusammen losziehen. Was wir dann auch taten. Stefan hatte von seiner Großmutter für jeden von uns einen dicken, roten Apfel dabei.

„Heute Nachmittag wird der alte Fritz beerdigt“, begrüßte er uns, als wir wieder aufeinander trafen. Marco und Mirco klatschten in die Hände; Jenny kombinierte scharf, dass es später im Gemeindesaal Kuchen gäbe und ich forderte meine Freunde auf, mir zu folgen: auf zum Friedhof! Denn eines unserer Lieblingsspiele war es, uns in die Nähe der Friedhofsgärtner zu schleichen, die Männern beim Buddeln zu bespitzeln und dabei möglichst selbst nicht gesehen zu werden. Und wenn die Gemeinde kam, um ihre Mitglieder zu beerdigen, stahlen wir uns vom Platz sobald der Trauerzug vorüber war. Aber bis dahin gab es keinen besseren Ort als diesen – mit seinen alten Buchen und Eichen, den zum Teil halb verwitterten Grabsteinen und Familiengruften, die zum Verstecken und Fangenspielen nur so herausforderten.

Die Zwillinge hatten ihre Äpfel schon aufgegessen. Sie waren gierig gewesen! Auch Jenny hatte ihren verdrückt. Sie fand es lästig, ihn in der Hand zu halten. Stefans Exemplar war ihm aus der großen Brusttasche seiner Latzhose gefallen, als er sich kopfüber in den dicksten Ast der weitverzweigtesten aller Klettereichen gehängt hatte. Dabei war der Apfel ausgerechnet im Stechginster gelandet. Jenny wusste von ihrer Mutter, der sie oft im Garten half, dass man gefälligst die Finger nicht in den Mund steckte, wenn man Stechginster berührt hatte.  Wir nahmen an, dass das für den Apfel auch galt und hatten ihn verloren gegeben.

Nur ich hatte noch meinen, und war sehr zufrieden damit.

Als die Trauergäste sich an diesem Tag dann vor dem Friedhofstor aufgestellt hatten, um in stiller Prozession dem Sarg zu folgen, standen wir hinter der Hecke und warteten. Zum Mittag  mussten Mirco und Marco allerdings einen Kasper in ihrer Suppe gehabt haben, denn sie hörten gar nicht mehr auf, rumzublödeln. Ich widmete mich gerade hingebungsvoll meinem Proviant, als Marco Mirco schubste, dieser Stefan anrempelte, welcher ungebremst gegen mich fiel und wir beide dann zu Boden gingen. Jenny versuchte noch, eine lustige Rauferei zwischen uns zu verhindern, als sie plötzlich innehielt und mit entsetzten Augen aufsah: Mein Apfel rollte schnurgerade auf die sechs Sargträger zu, die eben den Weg entlang kamen und besonders würdevoll nach vorn blickten. Der erste hob seinen großen Fuß mit den blankpolierten Schuhen. Als er ihn wieder aufsetzen wollte, traf er mit seiner glatten Sohle genau die verhängnisvolle Frucht, rutschte daran ab, begann zu straucheln, stütze sich in einer halben Drehung und dem verzweifelten Versuch, das Gleichgewicht zurückzugewinnen, mit der rechten Hand am Sarg ab, fiel über seine eigenen und vor des nächsten Füße, welcher den Griff vollends losließ, um nicht – den Kopf voran – über den Vordermann zu stürzen, während der dritte von hinten den Sarg nicht mehr waagerecht halten konnte und dieser mit der rechten, vorderen Kante auf dem Boden aufschlug.

Dann herrschte Totenstille. 

Den Leichenschmaus konnten wir vergessen. Es hagelte Hausarreste. Aber meine Mutter erzählte mir später, dass das halbe Dorf später darüber lachte, wie wir alle auf den Sarg gestarrt hatten, voller Panik in der Erwartung, der Deckel würde gleich aufspringen!

Was wir nicht wussten: Der alte Fritz hatte seinen Körper zu Forschungszwecken dem nächstgelegenen Universitätskrankenhaus vermacht. Im Sarg lagen nur ein Anzug und seine alte Pfeife.

2 Kommentare:

  1. Die Skala "Reaktionen" gibt sie nicht her, meine Reaktion auf die Geschichte. Sie lautet: "Sehr gut formuliert und geradezu bildhaft 'rübergebracht. Hat Freude gemacht, zuzuhören und macht neugierig auf Fortsetzungen!" LG - ILu

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  2. Vielen Dank! Das freut mich! Es wird mehr geben. Das ist absolut sicher.

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