Sonntag, 23. September 2012

Von einem Erzähler, der es satt hatte...

... aus seiner Vergangenheit zu erzählen –
Eine monologartige Erzählung
 
Natürlich, ich stimme Ihnen zu! Voll und ganz, aus Überzeugung und intensiver Auskostung diesen Potenzials zur Unterhaltung der Umgebung. Natürlich, das Leben ist eine Schatzkiste voller Erlebnisse, Erfahrungen und Eindrücke. Wie sollte man nicht – vor allem als literarisch tätige Person – diesen Schatz nutzen, tief hineintauchen und bergen, was immer sich dort an Reichtümern findet? Ihre Frage ist berechtigt und soll eine Antwort finden.
Ganz einfach, sage ich Ihnen: wenn bereits zur Genüge getaucht worden ist, der Erzähler die Jagdgründe in- und auswendig kennt und sich nun nach neuen Horizonten sehnt – dann, ja, dann gleicht es einer Tortour, sich erneut zu wappnen und hinabzusteigen in die eigenen Weiten und Tiefen, um im Schlamm der Vergangenheit zu wühlen, dessen er doch längst so überdrüssig ist!
Und so macht der Erzähler sich auf, neue Welten zu entdecken, wenngleich, da er so lange auf sich selbst fokussiert gewesen war, er Schwierigkeiten haben mag, einen Anfang zu finden, schon allein in der Wahl, wo er diese suchen soll. Doch er hat Glück: er lebt in einer Zeit, die sich des Papiers bedient und der Technik, und so mehr als nur Buchstaben, gleich ganze Sätze und mit ihnen Geschichten und Geschehnisse verbreitet sind, in mehr oder minder sinnvollen Zusammenhängen, und kaum hat der Erzähler sich also entschieden, sich der Presse zuzuwenden, wird er fündig! Eine Zeitung bringt ihm die ersehnten Neuperspektiven: mit politischer Verfolgung, menschlichen Dramen, wirtschaftlichen Pleiten. Sogar einige positive Eindrücke lassen sich ausmachen, darüber, was es sonst noch so zu sehen gibt auf dieser Welt.
Und so vertieft sich der Erzähler, bevor er erneut zu erzählen beginnt, in das raschelnde Papier. Er lässt Radio und Fernseher schweigen, um vollends einzutauchen, wieder einmal, nur diesmal nicht in seine eigenen, sondern die Abgründe der Welt und er staunt nicht schlecht, und das nicht nur über seine schwarzen Finger am Ende der Lektüre. So empfindet er schließlich seine eigenen Katastrophen, verglichen mit diesen, als durchaus mäßig, ist erschüttert von den Strukturen, die sich da zeigen im Umgang der Menschen miteinander, und beglückwünscht sich zum äußeren Frieden seiner Vergangenheit, wie sehr sie ihn auch gebeutelt haben mag. Immerhin: er lebt und er lebt gar nicht mal schlecht. In seinem Körper, in seiner Wohnung, in seiner Straße, in seiner Stadt, in seinem Land. Sogar in seinen Beziehungen!
Und so lehnt er sich zurück in seinem Lehnstuhl und schaut sich zufrieden um in all dem und eine seltsame Ruhe überkommt ihn und der Drang zu erzählen lässt für einen Moment nach, denn seine Geschichte ist ja längst erzählt und erzählt und wieder erzählt und sogar wahrhaft zur Genüge erzählt, vollends, so, wie sie bisher war und er sie kennt.
Doch das Neue, was er nun sieht - auch das mag oft wiederholt werden und manch einem viel zu oft. Ein Anderer kann vielleicht gar nicht mehr zuhören, ein Dritter verschließt die Augen und leidet im Luxus, ohne sich dessen gewahr zu sein, blind für den Reichtum seines Seins.
Und so sitzt der Erzähler in seinem Lehnstuhl und denkt all diese Gedanken, die ihren Ursprung darin gefunden haben, dass er sein eigenes Leben so ausführlich erzählt hat an anderer Stelle und auch das bereits Geschriebene so oft wiederholt ist, dass es langweilen mag. Was bleibt ihm noch zu tun? Und während er dasitzt und sich wundert, so bleibt doch sein gelassenes Herz weit und wie nebenbei streift sein Blick das Papier, und mit einem Mal sieht er neue Geschichten. Geschichten, die sich speisen aus der Gegenwart dessen, was dort steht und aus seiner Fantasie;  Geschichten, die, obgleich nicht seine, weil nicht von ihm gelebt, so dann doch seine, weil von ihm erdacht und verbunden mit den Schätzen, die er schon zuvor gefunden hat in den Tiefen seines eigenen Seins und Erlebens und so entscheidet er, doch weiterhin Erzähler zu bleiben, solange sich ihm Sätze zeigen, die sich zusammenfügen in seinem Geist zu Bildern und Erzählungen; vielleicht kein Realitätsschreiber, sondern ein fiktiver, und doch keineswegs fiktiv, denn die Emotionen und Bilder – sind sie jemals wahrhaft neu? Oder nicht doch immer nur neu in ihrem Zusammenspiel, mal lustig, mal schaurig, mal heiter, mal traurig – ups, das reimt sich jetzt auch noch. Und ja, so gebe ich Ihnen noch einmal Recht: Das eigene Leben ist eine unverzichtbare Schatzkiste, und seien nur die Farben daraus verwendet, die den Grundton ergeben, in dem die Erzählung erstrahlt.

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