Sonntag, 22. April 2012

In einer anderen Welt?

1Q84 begegnete mir an einem dunklen Winterabend in der Bahnhofsbuchhandlung. An diesem Abend mochte ich es mir nicht verkneifen, diesen Fund liegen zu lassen und außerdem ging es darin um einen Schriftsteller. Zumindest, soweit ich das anfangs beurteilen konnte ;-)

Tengo ist Mathematiklehrer an einer Yobiko, einem privaten Institut zur Vorbereitung von Studienanwärtern auf die Aufnahmeprüfungen. Davon abgesehen gilt seine Leidenschaft der Schriftstellerei. Bisher hatte er damit keinen Erfolg, aber er lektoriert andere Werke und bei seinem Herausgeber hat seine Meinung Gewicht. Schließlich wird er Fukaeris Die Puppe aus Luft überarbeiten, damit diese hoffentlich einen Debütpreis gewinnt – was auch tatsächlich passiert.

Aomame ist Fitnesstrainerin und mit dem menschlichen Körper zutiefst vertraut. Wenn es notwendig ist, betätigt sich als Auftragskillerin im Namen der Menschlichkeit.

Beide leben am Rande der Gesellschaft, sind im Grunde Einzelgänger und ihre Schicksale letztlich eng miteinander verwoben.

Die Geschichte um Die Puppe aus Luft im Jahr 1Q84 (einer Paralellerscheinung zu 1984) wird abwechselnd mit dem Blick auf Tengo und Aomame erzählt. Zwei von drei Büchern sind in diesem Band zusammengefügt. Dabei ist das erste Buch stärker von Handlung getragen, während Buch zwei sich überwiegend mit dem Innenleben der beiden Protagonisten in ihrer jeweiligen Situation befasst.

In Buch eins bleibt vor allem die Frage bestehen: Worum genau geht es hier eigentlich? Auf Seite 400 ist es mir noch nicht klar. Die Geschichten von Tengo und Aomame scheinen in keinem Zusammenhang zueinander zu stehen, und beide weisen als Einzelgeschichten ebenfalls keine klar greifbare Richtung auf. Genausogut könnte man seinem Nachbarn dabei zusehen, wie er sich auf den täglichen Spaziergang mit seinem Hund vorbereitet und auch tatsächlich das Haus verlässt, obgleich das Erzählte natürlich weit mehr Kuriosität aufweist.

Interessant finde ich die schriftstellerische Aspekte, die – durch die Figur bedingt – vor allem in Tengos Anteilen zum Tragen kommen, und Aussagen wie: „Wenn in einer Geschichte eine Pistole vorkommt, muß sie auch zum Einsatz kommen“, lassen aufmerken. Auch wenn diese ein Zitat ist. Merkwürdigerweise fällt es jedoch in einem Aomame-Kapitel. Diese Verwobenheit erzählerischer Elemente über verschiedene Charaktere hinweg irritiert, denn sie zeichnet keine klaren Charakterstrukturen, sondern lässt den Verdacht aufkommen, dass der Autor ein bestimmtes Kontingent an Inhalt einfach immer wieder aufrollt, um der Geschichte Volumen zu verleihen.

Einzig Fukaeri, die Autorin von Die Puppe aus Luft zeichnet sich durch eine konsequente Andersartigkeit aus, und es stellt eine echte Herausforderung dar, ihre Art des Fragens ohne Fragezeichen zu intonieren. Wie geht das, wenn Fukaeri fragt: „Darf ich die Hand noch halten“ (S. 203), ohne dabei die Stimme einem Fragesatz gemäß zu modulieren? Eins kann ich dazu sagen: es ist nicht leicht!

Faszinierend ist jedoch auch Aomames Konzentrationskraft zu beobachten. Stück für Stück kann man sie begleiten bei der Entdeckung, dass irgendetwas in ihrer Welt im Jahr 1984 nicht stimmt. Selbst die Feststellung: “Ich bin nicht verrückt. Die Welt ist verrückt. - Aber denken das nicht alle Verrückten?“ besticht in seiner analytische Exaktheit, die sie an dieser Stelle konsequent auch auf ihre eigene Wahrnehmung anwendet.

Mit der Zeit fällt auf, dass Murakami Gedankengänge zu oft wiederholt, ohne dieser Wiederholung Sinn zu verleihen. Er verdeutlicht auch nicht, dass er bzw. die Figuren sich dieser Wiederholungen als solcher bewusst sind. Mehr als einmal fragte ich mich, ob der Autor lediglich vergessen hatte, dass er eine Darstellung bereits in genau der gleichen Weise verwendet hatte, wie z.B. beide Male, als Tengo seinem Vater begegnet, und er beide Male feststellt, dass dieser um eine Kleidergröße kleinergeworden wirke. Bei der zweite Erwähnung hätte ein „und wieder“ oder ähnliches die Feststellung eines erneuten Schrumpfens oder z.B. ein „wieder fiel ihm auf“ die bewusst wiedererlebte Beobachtung verdeutlichen können. Solche Doppelungen kamen sogar auf einer einzigen Seite vor, ohne dabei ein Verstärkung des bisher beschriebenen zu bewirken, wie es damit durchaus geschehen kann. Vor allem das zweite Buch ist an vielen Stellen schlichtweg in die Länge gezogen, die gedanklichen Reflexionen erscheinen oft überflüssig und keineswegs mit einem natürlichen Denkprozess vergleichbar (jedenfalls nicht mit meinem). Stattdessen wirken sie wie wohlausgefeilte Reden und Rechtfertigungen. Vermutlich hätte dieser Band ohne weiteres um mehr als 100 Seiten kürzer sein können. Der Inhalt wäre der gleiche geblieben.

Da die Geschichte selbst aus insgesamt drei Bänden besteht, fehlt diesem Buch ein konkreter Schluß. Das Ende des letzten Kapitels würde ebenso wie alle anderen dazu verleiten, die Seite umzublättern – wenn denn noch Seiten da wären.

Hierin liegt aber auch die Stärke des Romans. Trotz der Längen, obwohl das erste Buch kaum Anhaltspunkte liefert, worauf die Gesamtkomposition überhaupt hinauslaufen soll, trotz der immergleichen Anleihen an Nebenthemen (Musik, Literatur, die Akebono…) für alle beteiligten Figuren ohne gemeinsamen Erfahrungshintergrund, der einen relativen Einheitsbrei aller Figuren untereinander entstehen lässt, fällt es erstaunlich leicht, immer weiterzulesen. Vielleicht liegt es an dem derart ausgelösten Bedürfnis, doch noch Ordnung in das Chaos zu bringen. Vielleicht gilt es, weiterzulesen, um Seite für Seite hoffentlich mehr Puzzleteile des Gesamtbildes herausarbeiten zu können. Dabei geschieht das Umblättern ganz automatisch. Trotz aller Kritikpunkte schafft Murakami es, eine Welt zu weben, in die sogar der Leser hineingezogen wird.

Wenn man also Zeit hat, die nicht verloren scheint durch zuviel Doppeltes – dann kann man Murakamis Geschichte genießen als fantasievolles Konstrukt aus Welt und Paralellwelt, aus fast alltäglichem und fremdartigem, aus Menschlichkeit und Mythos. Allerdings sollte man dann wohl auch in Betracht ziehen, Band drei gleich mitzukaufen und noch ein paar Tage Lesezeit dranzuhängen.

1 Kommentar:

  1. Da bleibt am Ende doch die Frage offen, was will der Autor ausdrücken?
    Im Leben selbst geht es in der Regel nicht so zu, wie in einem Roman, wo es einen Anfang und ein Ende gibt, in dem klare Strukturen vorherrschen und Gottgleich sich einem die Geschichte entfaltet.
    Vielleicht ist es die einfacheheit des Lebens schlichtweg, das wie ein Fluß dahinfließt, und uns zumeist der Sinn für das Warum und Wieso fehlt.

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